Meine Erfahrung - meine Abtreibung
Es verfolgt mich regelrecht – es liegt nun sieben Jahre in der Vergangenheit und noch immer werde ich von diesem Ereignis eingeholt.
Da ich nicht besonders gut darin bin, anderen Menschen von den Dingen zu erzählen, die derart persönlich sind, schreibe ich es hier nieder – möge es nun helfen oder eben nicht. Ich möchte das jetzt einfach mal loswerden, ich kann einfach nicht darüber sprechen, aber es muss raus.
Um zur Bestandsaufnahme zu kommen: Ich bin damals 14 Jahre alt, wohne mit meinem Bruder bei unseren Eltern. Ich gehe in die achte Klasse der Realschule und lerne meinen ersten festen Freund kennen. Zu diesem Zeitpunkt bin ich jung, naiv, leichtsinnig. Ich war noch nie so richtig verliebt; dieses Gefühl ist absolut neu und extrem aufregend. Es geht mir verdammt gut, ich fühle mich federleicht.
Das Verhältnis zu meinen Eltern ist eher schwierig; Mutters Alkoholismus und Vaters Depressionen machen sie unnahbar. Das Vertrauen liegt irgendwo begraben und ich versuche meine Probleme mit mir auszumachen – alle anderen haben ihre eigenen oder interessieren sich nicht für Probleme anderer.
Ich bin also in einem gewissen Alter, in dem auch Sexualität zunehmend eine Rolle spielt. Und ich wurde massivst aufgeklärt! In der Grundschule, auf der Realschule, mehrfach durch meine Mutter, als die ersten Fragen zur Entstehung eines Menschen aufkamen. Und doch war dort diese fürchterliche Scham.
Der vernünftige Vorschlag meiner Mutter, mir die Pille verschreiben zu lassen schien mir damals eher wie eine schmerzliche Grenzüberschreitung; als würde ich meiner Mutter in aller Detailliertheit meine sexuelle Bereitschaft postulieren müssen. Nein, das durfte sie unter keinen Umständen wissen. Ich habe mich nun mal extrem dafür geschämt, dass mir auch eine sexuelle Seite innewohnt.
Dementsprechend gab es keine Antibabypille für mich. Doch die ersten sexuellen Erfahrungen gab es trotzdem. Und es war schön und gut für mich, wenn auch noch immer peinlich.
Da die Verhütung lediglich durch Kondome abgedeckt war und mein damaliger Freund ebenfalls noch recht unerfahren war, kam es, wie es kommen musste: Anwendungsfehler, Sex, Unfall.
Wir hatten beide Panik. Hätte ich gewusst, welchen Rattenschwanz dieser Vorfall nach sich ziehen würde, wäre Panik keine passende Beschreibung mehr gewesen. Der Albtraum begann also.
Wir sind sofort in das nächste Krankenhaus gegangen, um mir die Pille danach verschreiben lassen zu können.
Dazu muss ich erwähnen, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits ein einziges Mal bei einer Frauenärztin vorstellig wurde und dies auch nur für ein Erstgespräch; den bösen Stuhl hatte ich damals noch nicht bekleidet.
Im Krankenhaus angekommen, musste ich mich gynäkologisch untersuchen lassen, sprich; ich hatte mich sofort auszuziehen und musste auf diesen Stuhl. Diese ganze Situation war ja nun bereits unglaublich beschämend und ich fühlte mich ohnehin billig, ekelerregend und minderwertig. In meinem Kopf schien es, als müsste ich nun das letzte bisschen Würde ablegen. „Wer Sex haben kann, der kann sich auch untersuchen lassen“, hieß es. Wer dies logisch betrachtet, sieht ein, dass diese Aussage durchaus Sinn macht. Wer gerade die ersten Erfahrungen macht, sich in Grund und Boden schämt und bloß noch schreien und heulen will, der fühlt sich nur noch billiger und wertloser. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, auf diesen Stuhl zu steigen.
Wir gingen wieder nach Hause, ohne Pille, dafür mit voller Angst.
Und die Uhr tickte.
Am nächsten Tag startete ich einen neuen Versuch und betrat die Praxis meiner damaligen (!) Gynäkologin. Um die Pille danach verschrieben zu bekommen, musste ich dort einen Schwangerschaftstest ablegen, damit die Schädigung eines möglicherweise bereits bestehenden Embryonen ausgeschlossen werden kann.
Dieser Test kostete zehn Euro.
Und ich hatte kein Geld.
Mein Freund hatte kein Geld.
Unsere Eltern, zum einen unwissend bezüglich dieses Vorfalls, zum anderen Hartz-IV-Empfänger, hätten uns nicht ohne weiteres diesen Betrag geben können.
Also bin ich wieder nach Hause gegangen.
Und die Uhr tickte.
Am Tag darauf schaffte es mein Freund, sich die zehn Euro von einem Freund zu leihen, kam sofort zu mir und wir sind zusammen noch einmal in diese Praxis gegangen. Nun, da ich die zehn Euro endlich hatte, durfte ich den Test machen – selbstverständlich fiel dieser negativ aus. Also bekam ich nun ENDLICH mein Rezept. Wenigstens musste ich nicht auch noch die Pille bezahlen; sonst wäre es unmöglich für mich gewesen, diese überhaupt zu bekommen.
Die Uhr hatte den kritischen Zeitpunkt überschritten, doch das wusste ich nicht.
Ich nahm die Pille und fühlte mich gerettet, extrem erleichtert. Die Welt war wieder in Ordnung und auch der Selbsthass nahm ein wenig ab.
Tja, was soll ich sagen: Die Uhr hörte nicht auf zu ticken.
Der darauffolgende Monat war geprägt von purem Verdrängen, von Panik. Genau so wie von täglichem Erbrechen, Stimmungsschwankungen, extremer Gewichtszunahme, Heißhungerattacken, der Abneigung gegen meine Lieblingsgetränke- und Speisen, dem Anschwellen meiner Brüste und dem Ausbleiben meiner Periode. Und ich konnte und wollte es nicht wahrhaben. Würde ich einen Test machen, würde dieser wahrscheinlich positiv ausfallen. Und wenn dieser Test positiv ausfällt, muss ich es wahrhaben: Ich bin schwanger. Da wächst ein Mensch in mir heran.
Also habe ich gewartet, viel zu lange gewartet. Erst, als mir all diese Umstände so klar schienen, dass mir keine andere Möglichkeit blieb, kaufte ich mir in der Drogerie solch einen Drei-Euro-Schwangerschaftstest. Ich ging nach Hause und wartete darauf, dass meine Eltern außer Haus waren. Ich machte also diesen Test.
Tja, es war, wie zu erwarten: Schwanger.
Es ist wirklich beachtlich, wie schnell die gesamte Zukunft, das eigene Leben vor einem zerbrechen kann. Da war nichts mehr. Ich wollte Abitur machen und studieren gehen, damit wäre ich die erste in meiner gesamten Familie gewesen. Ich wollte das unbedingt. Und plötzlich ist da nur noch ein Baby und daneben unzählige Fragen.
Mir war klar, dass ich nur noch sterben wollte. Ich wollte niemandem davon erzählen; lieber wäre ich gestorben, als ein Kind auszutragen.
Dementsprechend habe ich nur noch gebrüllt. Ich bin in meinem Zimmer völlig aufgelöst auf und ab gelaufen und habe aus tiefster Seele geweint. Mein Leben war an diesem Punkt für mich vorbei.
Gott sei Dank war mein Bruder zuhause. Tja, und wenn ich einem Menschen vertraue, dann ist er das – heute ebenso wie früher.
Er kam in mein Zimmer und ich versuchte augenblicklich mit dem Weinen aufzuhören und mir nichts anmerken zu lassen; ich setzte eine gefühllose Mine auf und hoffte, dass man mir nicht ansieht, was in mir vorgeht. Und mein Bruder fragte, ob denn alles gut sei bei mir. Ich verneinte. Und er fragte, eigentlich spaßeshalber: „Was ist los, biste schwanger?“. Da fiel mir alles aus dem Gesicht, ich konnte mich nicht mehr halten und habe augenblicklich wieder los gebrüllt. Ihm war die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben, aber er war da und das hat mir alles bedeutet. Da waren keine großen Worte, da war Jemand für mich da, der mich nicht verurteilte, sondern sich um mich sorgte. Ich bat ihn, mich nicht bei unseren Eltern zu verraten. Dafür haben wir gemeinsam besprochen, wie wir es unseren Eltern beibringen könnten. Er war bei mir und ich fühlte mich geschützt. Ich hatte pure Angst davor, meinen Eltern erzählen zu müssen, dass ihre 14-jährige Tochter, die die Pille abgelehnt hatte, nun schwanger vor ihnen steht. Ich war nicht einmal mehr mit dem Vater zusammen.
Da die Feiertage anstanden, waren wir uns einig, bis nach Silvester zu warten, um unseren Eltern diese Zeit nicht zu vermiesen. Es war kaum zu ertragen, sie so in Unwissenheit zu lassen, zumal die Uhr noch immer tickte.
Weihnachten und Silvester waren durchgestanden, doch das Schlimmste stand mir noch bevor. Wir hatten uns geeinigt, dass wir erst unsere Mutter einweihen. Sie war immer sehr streng, aber sie wusste auch immer, was zu tun war. Da unser Vater immer sehr still und teilnahmslos war, hatten wir die Sorge, dass ihn dieser Vorfall so sehr mitnimmt, dass seine Reaktion für uns unberechenbar schien.
Es ist nicht zu beschreiben, wie viele Gefühle da gleichzeitig auf unsere Mutter einschlugen. Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, wie sie so ruhig bleiben konnte.
Zusammen mit unserer Mutter haben wir es unserem Vater erzählt. Trotz unserer anfänglichen Angst, kam keine Reaktion. Es schien ihn nicht wirklich zu interessieren.
Meine Mutter hatte all ihre Kräfte mobilisiert, das Ruder in die Hand genommen und ging am nächsten Tag sofort mit mir zu einem Frauenarzt. Nachdem ich erzählt hatte, dass ich in der Praxis meiner ersten Gynäkologin einfach nach Hause geschickt wurde, weil ich kein Geld hatte, gingen wir zu einem anderen Arzt.
Der Gynäkologe war wohl der beste Arzt, der mich in dieser Situation hätte behandeln können. Um den Stuhl kam ich nicht herum, aber ich führte vorher ein langes Gespräch mit ihm, erzähle ihm von meinen Sorgen und Ängsten und er erklärte mir, welchen Weg ich nun gehen müsse, sowie welche Untersuchungen er durchführen wird und wie genau diese ablaufen. Er nahm mir so sehr die Angst, dass ich mich untersuchen lassen konnte. Er bestätigte die Schwangerschaft und leider auch, dass ich kurz davor war, den Zeitraum, in dem eine Abreibung gesetzlich noch erlaubt wäre, zu überschreiten.
Wie vom Arzt empfohlen, begaben sich meine Mutter und ich zu einer Beratungsstelle der ProFamilia. Dort führte ich ein langes Gespräch mit einer Beraterin, die sicherstellte, dass ich auch alle anderen Wege zumindest in Betracht ziehe, um die richtige Entscheidung für mich zu treffen. Für mich war ganz klar, dass ich kein Kind bekommen konnte. Wäre keine Abtreibung möglich gewesen, hatte ich fest geplant, mich umzubringen. Der Gedanke, Mutter zu sein, obwohl ich selbst noch ein Kind war, war unerträglich. So wollte und konnte ich nicht leben.
Ich wurde wirklich wundervoll beraten und habe tatsächlich das erste Mal in dieser ganzen Situation das Gefühl bekommen, dass ich deshalb nicht minderwertig bin und das jede Entscheidung gut und gerechtfertigt ist, wenn sie die richtige Entscheidung für mich ist.
Ich wollte und musste abtreiben, denn ich wollte eigentlich gern weiterleben.
Von der Beratungsstelle aus fuhren meine Mutter, mein Vater und ich zu meinem Patenonkel. Zum einen, weil meine Eltern wussten, dass er finanziell gut aufgestellt war und weil er ein guter Mensch ist und nicht einfach urteilt. Meine Eltern wollten sich absichern, dass das Geld bereitstünde, würde man in Deutschland keine Abtreibung mehr durchführen, damit ich den Eingriff notfalls in den Niederlanden hätte vornehmen lassen können.
Ich wollte nicht, dass er davon erfährt, doch mir blieb keine Wahl. Ich blieb im Auto, ich fühlte mich wie das letzte Stück Scheiße und habe mich zu sehr geschämt, als dass ich mit hätte hineingehen können.
Und es war eigentlich nichts besonderes, aber darauf folgte ein Schlüsselmoment für mich; in meinem ganzen Leben ging mir nichts so nah, wie mein Patenonkel, der aus der Haustür schoss, in schnellem Schritt auf das Auto zukam, die Tür öffnete, mir hinaus half und mich einfach nur fest in den Arm nahm. Es war bloß eine Umarmung, aber für kurze Zeit fiel alles von mir ab und ich fühlte mich nicht mehr schuldig, ekelhaft oder minderwertig. Ich fühlte mich nicht mehr allein. Für diesen kurzen Moment stand die Zeit für mich still und mein Kopf war frei von Wertung und Urteil. Ich war einfach nur da und merkte, dass bloß ich mich hasste. Obwohl ich Empörtheit und Schock erwartete, war er einfach da und hielt mich fest – das bleibt mir bis heute in absoluter Klarheit im Gedächtnis und es ist so ziemlich das Schönste, was mir je passiert ist. Selbst beim Schreiben dieses Absatzes, muss ich unkontrolliert weinen; es berührt mich noch heute und das wird auch so bleiben.
Selbstverständlich sagte er der finanziellen Unterstützung zu und erklärte, dass er alles tut, damit es mir gut geht.
Kurzerhand fuhren wir zur Krankenkasse, um die Übernahme des Eingriffes abzusichern und fuhren sofort weiter zu einem Gynäkologen, der auch Abtreibungen nah an der Grenze zum Illegalen durchführte. Er sagte zu, den Eingriff vorzunehmen und ich konnte noch nicht ganz fassen, dass ich nun erleichtert sein durfte.
Einige Tage später war es soweit. Zu meinem Wohl verlief der Eingriff unter Vollnarkose und ich musste nichts mitbekommen.
Das Ticken der Uhr verstummte endlich.
Zuhause angekommen, schlief ich sehr lange. Durch diese Erleichterung konnte ich wieder atmen, ich hatte keine Angst mehr und musste mich auch nicht mehr mit dem Gedanken abfinden, mich möglicherweise umbringen zu müssen. Alle Sorgen waren vom Tisch.
Dachte ich.
In dieser ganzen Zeit fühlte ich mich wie betäubt. Es ging unglaublich schnell und fühlte sich doch an wie eine zerreißende Ewigkeit. Ich hatte das Gefühl, gar nicht selbst bestimmt zu haben was mit mir passiert. Und es dauerte etwa ein halbes Jahr bis die ersten Zweifel kamen.
Habe ich mein Kind getötet? Ist mein Leben jetzt nicht eigentlich gar nichts mehr wert? Habe ich es nun so oder so verdient zu sterben? Habe ich zu Unrecht mein Leben über das eines Embryonen gestellt?
Mit all diesen Zweifeln kamen dann meine Depressionen, mit denen ich jetzt noch stark zu kämpfen habe.
Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, aber ich denke, dass ich diese Zeit noch immer nicht aufgearbeitet habe. Es belastet mich nach wie vor und ich weiß nicht, ob das ein Ende haben wird. Aber ich denke mir mittlerweile auch: Lieber belastet und depressiv, als tot. Denn ich bin mir sicher; einen anderen Ausweg hätte ich nicht gesehen, nicht mit diesem Tunnelblick, der Angst und der Scham. Ich bin mir sicher, dass ich nicht mehr leben würde, hätte es diesen Eingriff nicht gegeben.
Und ich möchte weiterleben. Und wenn die Zeit dafür gekommen ist, dann möchte ich einem Kind die Chance geben, heranzuwachsen und auch leben zu dürfen. Allein, um wenigstens dem nächsten Menschen das Leben zu schenken. Das war mir damals leider nicht möglich, doch ich möchte es aus vollstem Herzen wieder gut machen.
Doch der erste Schritt dorthin besteht darin, an mir zu arbeiten, erst einmal erwachsen zu werden, Platz zu schaffen für einen neuen Menschen. Ich hoffe, dass ich eines Tages so weit sein werde. Da ist so viel Liebe, die sollte nicht einfach so verloren gehen. Ich möchte diese Liebe irgendwann einem Kind schenken. Allein dafür möchte ich weiterleben.
Liebe Kathi,
du warst so jung, viel zu jung für so ein schwieriges Thema. Die ganze Situation war so eine große Überforderung für dich.
Ich finde deine Geschichte sehr berührend, besonders wegen der Menschen, die dir zur Seite standen, die dich nicht verurteilt haben und für dich da waren.
Das ist so viel unsagbar viel wert.
Hast du therapeutische Hilfe, machst du eine Therapie?
Wenn nicht, kann ich dir das sehr empfehlen.
Es ist nicht leicht, einen Therapie Platz zu finden und manchmal passt es auch nicht mit der Therapeutin, so dass man nochmal weiter suchen muss, aber wenn du dann jemanden gefunden hast, mit dem du gut kannst, kann eine Therapie so viel weiter helfen.
Ich wünsche dir alles Gute und dass du es schaffst, deine Geschichte zu verarbeiten.
Liebe Kathi,
dein Bericht ist erschütternd. Wie wahnsinnig allein du warst. Und überhaupt nicht einordnen konntest, was alles geschah. Nur die Umarmung deines Patenonkels war es, die dich zu dir selbst brachte.
Ganz sicher ist gut, dass du alles hier niedergeschrieben hast. Du bist in den Jahren fähig geworden, dich auszudrücken, Worte zu finden. Ich bin sicher, dass es dir hilft für nächste Schritte.
Es gibt Menschen, oft selbst betroffene Frauen, die dir bei den nächsten Schritten helfen. Aber es muss nicht sein, dass eine Beraterin und Therapeutin selbst eine Abtreibung durchgemacht hat. Es kommt darauf an, dass sie erkennt, wie du deinen Lebenswillen weiter entwickelst und deine Liebe verschenken kannst.
Es wird den Tag geben! Du bist sehr gewachsen und gereift seit diesen schweren Zeiten.
Liebe Grüße von Layla