Hi. Meine Name ist Anni.
Ich bin 21 Jahre alt. Ich erzähle euch mal ein bisschen was von mir: Ich habe keine abgeschlosse Ausbildung und arbeite zur Zeit nicht. Ich bekomme AGB 2. Ich habe Borderline, Depressionen, und eine Essstörung. Zur Zeit wohne ich in einer therapeutischen Wohneinrichtung. Meine Familie ist sehr religiös. Ich habe mich mit 16 der Religionsgemeinschaft angeschlossen in dem ich mich taufen lassen habe. Inzwischen möchte ich diese Religion nicht mehr ausüben und habe mich davon ein bisschen zurück gezogen. Bei meinem Freund ist es ähnlich. Er hat sich ebenfalls taufen lassen, möchte aber nicht mehr dabei sein. Aber seine gesamte Familie und seine Freunde stehen hinter der Religion. Unsere Familien wissen nichts von uns, weil Beziehungen vor der Ehe nicht erlaubt sind.
Mein Freund und ich sind 1 1/2 Jahre zusammen. Er ist im 2. Lehrjahr. Er hat mit der Alltagsbewältigung täglich zu kämpfen. Er hat depressive Phasen und selbst eine Essstörung. Wir kennen uns schon seit Kindertagen und unsere Beziehung läuft gut.
Entschuldigung, dass ich so viel schreibe.
So nun zu dem eigentlichen Problem:
Vor drei Wochen, während ich gerade in der Psychiatrie war, wurde festgestellt, dass ich schwanger bin. Wir haben immer verhütet. Ich war da überhaupt nicht drauf vorbereitet und total geschockt. Ich liebe Kinder, wollte aber auf Grund meiner psychischen Instabilität nie eigene. Mein Freund hat mich sehr unterstützt und war für mich da, ist aber noch nicht bereit Vater zu werden. Wir haben uns beide für eine medikamentöse Abtreibung entschieden. Letzte Woche war mein Termin. Dabei stellte sich heraus, dass das Kind inzwischen zu groß ist und ich operativ abtreiben müsste. Ich war so berührt zu sehen, dass das Kind gewachsen ist und als ich den Herzschlag gehört habe, musste ich weinen.
Jetzt weiß ich nicht was ich tun soll. Meine Situation hat sich nicht geändert. Ich bin psychisch nicht stabil genug ein Kind groß zu ziehen. Wenn meine Eltern von der Schwangerschaft erfahren, werde ich aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen und darf nie wieder mit meiner Familie reden. Auch nicht mit meinen kleinen Geschwistern, die ich sehr liebe. Außerdem bin ich noch nicht bereit Mutter zu werden und mein Freund möchte das Kind auch nicht. Ich überlege nun operativ abzutreiben. Ich weiß , dass es hier um ein Menschenleben geht und ich habe solche Angst die falsche Entscheidung zu treffen. Vor allem habe ich Angst , dass das Kind was merkt , Schmerzen oder Angst hat. Ich habe das Kind lieb. Ich sehe aber nicht , dass ich dem Kind irgendwie eine gute Mutter sein könnte. Ich bekomme mein Leben alleine schon nicht in den Griff und die kleinsten Dine sind eine Herausforderung für mich.
Ich bin so überfordert. Kann mir irgendjemand einen Rat geben oder ein bisschen erzählen wie es bei euch war?
Vielen Dank für das Lesen meiner verkorksten Situation. Liebe Grüße Annie
Liebe Annie,
als erstes möchte ich Dir sagen: Du musst Dich für kein einziges Wort entschuldigen, das Du geschrieben hast. Du hast von Dir erzählt – ganz offen – das berührt mich sehr.
Ich würde am liebsten noch mehr von Dir lesen:
Was hat dazu geführt, dass Du Dich aus der Gemeinschaft lieber zurückgezogen hast? Kannst Du Deiner Familie gegenüber offen dazu stehen, dass Du offensichtlich mit mancher Sichtweise nicht so einverstanden bist? Wie ist es dazu gekommen, dass Du Dich psychisch so schwach fühlst?
Du bist eine erwachsene Frau und Du kannst und darfst eigene Entscheidungen für Dein Leben treffen.
Du hast Dich z.B. dafür entschieden, mit Deinem Freund zusammen zu sein. Da bist Du sicher Deinem Herzen gefolgt, hm? Ihr kennt euch schon sooooo lange und irgendwann habt Ihr gemerkt, dass ihr mehr füreinander empfindet. Und Ihr habt Eure Liebe zueinander über die Regeln der Gemeinschaft gestellt.
Das ist stark von euch beiden und es schweißt euch zusammen. Du schreibst eure Beziehung läuft gut und Dein Freund hat Dich immer wieder unterstützt. Du hast eine Ausbildung abgeschlossen und er wird wohl auch nicht mehr lange brauchen, bis er mit der Lehre fertig ist. Wenn ihr beide die Unterstützung habt, die Ihr braucht, sind das doch gute Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft.
Es tut mir sehr leid, dass Ihr Eure Freundschaft vor den Familien geheim halten müsst. Kann es sein, dass euch das so sehr belastet, dass ihr beide psychisch darunter leidet?
Jedenfalls ist nun aus Eurer Liebe zueinander ein Kind entstanden. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr beide erst einmal total geschockt wart.
Trotzdem spürst Du schon Deine Liebe zu dem Kleinen. Du hast es vielleicht auf dem Ultraschall sehen können und hast sein Herz gehört.
Spürst Du, mit welcher Kraft Du hier in Berührung gekommen bist.
Ist nicht die Liebe die größte Kraft, die Hindernisse überwinden kann? Du machst Dir Sorgen um Dein Kind, Du willst, dass es ihm gut geht. Das ist eine sehr gesunde und starke Reaktion.
Ich will Deine Probleme nicht kleinreden und auch nicht die möglichen Konsequenzen, die Du beschrieben hast. Ich finde es eher verantwortungsvoll, wenn jemand die Stärke hat zu sagen: damit bin ich überfordert. Denn dann kann man schauen wo es die nötige Hilfe geben kann. Ich kann mir vorstellen, dass Du weiter Kraft gewinnst, wenn Du Deinem Herzen nachgehst und die Liebe die Du spürst zu Ihrem Recht kommen lässt.
Im Moment lebst Du in der therapeutischen Wohneinrichtung. Meinst Du dort könntest Du Unterstützung bekommen?
Würde es Dir helfen, morgen mal hier bei der Hotline anzurufen? Um eine Idee zu bekommen welche Möglichkeiten es in Deiner Situation geben könnte?
Das wäre im Moment mein Rat an Dich.
Was denkst Du dazu?
Linda
Hallo liebe Anni,
mich würde auch interessieren, ob du aus deiner therapeutischen Wohneinrichtung Unterstützung bekommst?
Du schreibst zwei so bedeutsame Sätze:
Ich habe das Kind lieb. Ich sehe aber nicht , dass ich dem Kind irgendwie eine gute Mutter sein könnte.
Ich denke, dass in dir trotz allem die Kraft steckt, dass du eine gute Mutter für dein Kind sein kannst!
Eben: weil du das Kind liebhast!
Es ist Manches nicht gut gelaufen in deinem Leben. Und jetzt doch!
Eure Beziehung läuft gut. Du kannst eigenständig Wohnen und bekommst Unterstützung in den kleinen Dingen.
Du konntest dich auch etwas, was dir zu eng geworden ist, herauslösen. Das hat dich sicher viel Kraft gekostet. Und es hat dich auch Schmerzen gekostet, weil es ja deine Beziehung zu deinen Eltern und deinen Geschwistern erstmal verschlechtert.
Aber langfristig wird sich zeigen, wie es vielleicht erste wichtige Schritte sind, durch die du als Person stärker und gesünder wirst! Ein eigenständiger Mensch.
Mit wem redest du nun über diese Dinge? Und: Wer war bei dem Termin dabei letzte Woche, wo du den Herzschlag gesehen hast und geweint hast?
Du sagst: Du weißt nicht, was du tun sollst ... Das heißt, dass die Situation jetzt nochmal ganz offen ist und du sagen kannst, was dir lieber wäre. Und dein Freund auch.
Ich denke: Kind bekommen wäre sogar ein Zeichen von Stärke und Genesung.
Natürlich ist es eine große Aufgabe und Du siehst noch nicht, wie das gehen könnte.
Aber die Kraft steckt, denke ich, in dir!
Du konntest deine Kraft bisher nicht so entfalten, wie du gerne gewollt hättest. Aber die Sehnsucht ist da.
Könnte es sein, dass mehr möglich ist, als du jemals für möglich gehalten hast!?
Kannst du dir etwas Schönes vorstellen, wenn du an das Kind denkst?
Damit fängt es an, schön zu werden!
Was ich mir noch denke:
So wie das kleine Kind schon "zu groß" ist, könntest du es auch für dich selbst sehen:
Das Gute, was in dir und in deinem Leben wachsen will, ist schon wirklich größer als du denkst!
Sei lieb umarmt!
Layla
Liebe Anni
Wenn eine Frau das Ultraschallbild des Babys sieht, dann will sie es behalten und wachsen sehen.
Du solltest dieses Baby behalten. Du kannst dir bestimmt Hilfe holen, wo man dich unterstützt, das Kind gross zu ziehen.
In welcher Religionsgemeinschaft bist du, wenn ich fragen darf? Sind dort Abtreibungen nicht verboten? Wie steht du zu Abtreibungen? Oft ist es so, dass man in einigen Religionsgemeinschaften keinen Sex vor der Ehe haben darf. Aber alle sind nur Menschen und viele halten sich schlussendlich nicht daran. Und dann wird man sicher lieber für das Baby sein als für eine Abtreibung, welche man bestimmt als grössere Sünde anschauen wird.
Notfalls könntest du das Kind auch ohne deinen Freund aufziehen. Vielleicht bist du noch nicht bereit, Mutter zu werden, aber du wirst da hineinwachsen.
Du hast Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Ich denke auch, dass eine Abtreibung falsch ist. Du hast das Kind ja schon lieb. Du wirst bestimmt eine gute Mutter werden. Du wirst bestimmt Hilfe bekommen.
Weiss die therapeutische Wohneinrichtung von der Schwangerschaft? Wie stehen diese dazu? Vielleicht kannst du mit Baby dort bleiben und erhältst dort die nötige Hilfe.
Da möchte jemand unbedingt zu dir! Ich hoffe, du wirst das Baby behalten.
Lieben Gruss!
Liebe Anni,
es ist fast eine Woche vergangen seit Du geschrieben hast. Du hast hier im Forum Rat gesucht. Haben Dir die Antworten weitergeholfen?
Wie geht es Dir inzwischen? Ich würde Dich am liebsten in den Arm nehmen und Dir sagen, dass Du Deinem Herzen folgen darfst. Dein Baby erwartet keine perfekten Umstände und auch keine perfekte Mutter.
Und da, wo Du Dich noch zu schwach fühlst, darfst Du Hilfe in Anspruch nehmen und zusammen mit Deinem Kind wachsen.
Schreibst Du nochmal?
Ich wünsche Dir von Herzen alles alles Gute!
Linda